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Aus den falschen Gründen

Es ist eine anstrengende Sache, mit alten Menschen an Orte zurückzukehren, die ihnen in der Vergangenheit etwas bedeutet haben: Ach was, da ist jetzt ein Internetcafé! Und dort war doch dieses Blumengeschäft, wo ich früher immer ... Und guck, die alten Häuser, einfach verschwunden, dafür so ein Neubaublock ... Die Zeiten ändern sich ... Da capo, da capo.

Mein Freund F. und ich fahren nach Mostar ins Herz der bosnischen Herzegowina. Nicht mehr als zwei Jahre sind seit unserem letzten Ausflug vergangen, und das grausig-schöne Gesicht der zerschossenen Vielvölkerstadt steht uns noch überdeutlich vor Augen. Mühelos finden wir den gewohnten Parkplatz, stellen den Wagen ab, stöhnen über die Hitze, die Mostar wie immer fest im Griff hält - und betreten eine neue Welt. Es ist schwer zu glauben: Eine Stadt, die vor zwei Jahren vom Geruch ihrer Toten beherrscht wurde, atmet heute die Aura eines Mittelmeerbadeorts vor der Saison. Auf dem Corso haben sich zerschossene Gerippe in bunt gestrichene Häuser verwandelt, und jedes beherbergt plötzlich ein Geschäft, eine Bar oder ein Café. Wenige Menschen sitzen inmitten von Heerscharen auf die Straße gerückter Tische. Junge Leute schlendern paarweise vorbei und rufen einander Scherzworte zu. Kellner und Ladenmädchen statten sich gegenseitig Besuche ab, um mit noch einem Kaffee und noch einer Zigarette die Langeweile in überschaubare Einheiten zu teilen. Außer Burek und Ćevapčići gibt es Pizza zum Mitnehmen. Ein handtuchschmaler Laden verkauft Gummibälle, Plastikschaufeln und Sonnenbrillen. Die Sonne steigt, unsere Laune sinkt.

Und da ist Stari Most, die neue Alte Brücke: Überspannt als wiedererrichtetes Symbol der Völkerverständigung in steilem weißem Bogen die flaschengrüne Neretva. Weißt du noch, wie an ihrem Grund nur ein Trümmerhaufen lag? Stari Most scheint aus dem Nichts auf die Erde herabgesunken, und sie hat auch noch einen ganzen Stadtteil mitgebracht: Neue alte Häuser mit sauber gedeckten Steindächern spähen ihren Vordermännern über die Schultern. Ein neuer Neretva-Zulauf präsentiert eine neue alte Mühle samt neuer alter Steinbrücke, die wie ein Miniaturbild der großen wirkt. Neue alte Treppen führen in neue alte Gassen, in denen sich das neue alte Hämmern der Kupfertreiber mit dem Plaudern der Teppichverkäufer mischt. Postkarten, Reiseführer, mehrsprachige Menüs. Der grotesk hohe Waschbeton-Turm der neuen alten katholischen Kathedrale. Neue Tankstellen, Hotels, Bürokomplexe. Über allem dehnt sich der von Minaretten getragene Himmel, von dem ich auch nicht sicher bin, ob er noch der alte ist. Durch nachmittäglich stille Straßen, die bis vor Kurzem Flure eines bewohnten Kriegsmuseums waren, schiebt sich der Geist nahender Touristenhorden. Sie werden ihre Pensionszimmer im Voraus reservieren. Sie werden sich um die Plätze auf den Restaurantterrassen streiten und Schlange stehen, um die Brücke überqueren zu dürfen. Alles sieht ihnen mit angehaltenem Atem entgegen.

Außer F. und mir. Hier war doch einst ...! Wie die Zeit vergeht! - Wir können froh sein, dass uns fast niemand hört und hoffentlich keiner versteht. Eine Stadt, die sich derart im Zeitraffer ändert, lehrt den hartgesottensten westeuropäischen Dauerjugendlichen, was Alter ist: Relativ. Ich spüre schon, wie Nostalgie mir den Rücken zum Fragezeichen krümmt: Weißt du noch? Wie lang ist's her? - Nur auf der ehemaligen Frontlinie starren uns die pockennarbigen Fassadenfratzen mit toten Augen und ausgefransten Mündern auf gewohnte Weise entgegen, und wir starren erleichtert zurück. Schnell, ein Photo! Jeden Augenblick können sich renovierte Prachtbauten im Habsburgstil auseinander falten!

Früher gleich besser. F. und ich, Friedens- und Wohlstandskinder erster Couleur, wünschen uns die Ruinen zurück. Fühlen uns um unser Mostar betrogen, um die guten alten Zeiten, in denen noch kein Tourist seinen Weg zur Küste für eine Besichtigung unterbrach. Kneifen die quasi-zahnlosen Münder zu verbitterten Strichen und schimpfen auf die Jungen und Schnellen der Welt: Da geht das Echte verloren! Sieht aus wie Disney Land! - Wir drohen mit zitternden, krummen Fingern: Ihr verkauft eure Seelen! - Stottern asthmatisch: Ihr werdet's bereuen! - Und stoßen wütend die Krückstöcke aufs frisch verlegte Pflaster.

Ein alter Mann in bunten Radsportklamotten schiebt sein Rennrad vorbei. Wir kennen ihn und seine Legende. Nach dem Krieg ist er zum internationalen Stadtverwalter ins Büro marschiert: Alles kaputt. Du willst helfen? Kauf mir neue Reifen für mein Rad! - Man hat ihm welche aus Italien bestellt. Er grinst uns an mithilfe von tausend Falten, als wüsste er etwas, das wir nicht wissen. Im Flimmern der Hitze sehe ich ihn auf sein Fahrrad zeigen: Alte Luft in neuen Schläuchen.

Hör nicht auf uns, kleine Stadt an der flaschengrünen Neretva. Häute dich, kleide dich in frische Gewänder, empfange fröhliche Urlauber auf ihrem Weg an die Adria. Verzeih uns dreißigjährigen Greisen, wir sind schon am Auto, schon fast wieder weg. Wir haben dich geliebt, aber aus den falschen Gründen.

 

Erstveröffentlichung, Heft Nr. 6, Juli/August: "In den Gärten. Jäten im Paradies", ISBN 3-03717-016-6 DU

 

 

 

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