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Sich in die Geschichte hineinreden. Biographische Fallanalysen rechtsextremer Gruppenzugehörigkeit

Der Rechtsextremismus in Deutschland zieht seit Mitte letzten Jahres erneute Aufmerksamkeit auf sich. Zehn Jahre zuvor, Anfang der 90er Jahre, stand die politische, öffentliche und wissenschaftliche Debatte um den Rechtsextremismus anlässlich der Wahlerfolge der Republikaner und der Gewaltwelle 1992/93 schon einmal auf der Tagesordnung.

 

Rechtsextremismus existiert in Deutschland seit Kriegsende und ist kein neues Phänomen. Anfang der 80er Jahre, zu einer Zeit, in der es zu einem auffälligen Anstieg rechtsextremer Gruppierungen und Gewalttätigkeit kam, begann ein Forschungsprojekt an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt mit dem Ziel, anhand lebensgeschichtlicher Interviews mit jugendlichen Mitgliedern rechtsextremer Gruppen herauszufinden, was diese dazu veranlasst, sich rechtsextrem zu organisieren. Der Forschungsgruppe gehörte damals die Soziologin Lena Inowlocki an, die die Interviews im Rahmen einer anschließenden Dissertation analysierte. Die Forschungsergebnisse legt sie nun in der Publikation: Biographische Fallanalysen rechtsextremer Gruppenzugehörigkeit vor.

 

Viele sozialwissenschaftlichen Untersuchungen gehen davon aus, dass rechtsextreme Jugendliche keine ideologischen Überzeugungen vertreten, sondern lediglich mit „Schlagwörtern" argumentieren. Oftmals ist nur von allgemeiner Jugendgewalt oder von Cliquen die Rede, die sich spontan zusammenschließen, um ihren sozialen Protest zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig wird in erster Linie nur von Einzeltätern gesprochen und eine Zugehörigkeit zu rechtsextremen Gruppierungen bestritten.

 

Zentrales Anliegen dieses Buches ist, anhand von biographischen Fallstudien mit interpretativ-qualitativen Methoden die Prozesse des Mitgliedwerdens Jugendlicher in rechtsextremen Gruppen und die Intensivierung der Zugehörigkeit zu untersuchen und auf deren Grundlage Hypothesen zur Gruppenzugehörigkeit zu bilden. Es geht darum nachzuweisen, dass Rechtsextremismus ein Gruppenphänomen ist und sich auf die deutsche Geschichte, im Besonderen auf den Nationalsozialismus, bezieht.

 

Das Buch beginnt mit einer ausführlichen Einleitung, gefolgt von dem zweiten Kapitel: „Ethnographische Einführung in die soziale Welt der Gruppenmitgliedschaft." Die Autorin untersucht am Beispiel zweier Interviews mit jugendlichen Gruppenführern die symbolischen Bezüge auf ihre sozialen Welten und versucht am Beispiel eines Interviews mit einem ehemaligen Wehrmachtsoffizier, Aufschluss über dessen Argumentationsweise zu geben.

 

In den folgenden Kapiteln: „Einzelfallanalysen und zunehmende Involvierung" und „Rechtsextremismus in der Gruppe" stellt Inowlocki exemplarische Einzelfallanalysen von drei Jugendlichen und zwei Gruppenanalysen mit jugendlichen Mitgliedern der legalen Jungen Nationalsozialisten (JN) und der heute illegalen Neonazistischen Organisation (NN) vor. Sie geht der Fragestellung nach, wie es zum Beitritt der Jugendlichen in die jeweilige rechtsextreme Gruppe kam, welche Motive sie hatten und wie sie ihren Beitritt begründeten; welche Bedeutungen und Auswirkungen die Zugehörigkeit auf die Jugendlichen hatte, wie sich ihre Zugehörigkeit auf andere Erfahrungsbereiche auswirkte und welche Bedingungen in der Folge das Zugehörigkeitsgefühl bestärkten. Die Fragestellung nach den Bedingungen der Zugehörigkeit rechtsextremer Jugendlicher ist darauf gerichtet, die Prozessabläufe der Rekrutierung und Intensivierung zu rekonstruieren mit dem Versuch, die Sinnbezüge innerhalb der sozialen Welt der Gruppenmitglieder aufzuzeigen.

 

Im fünften Kapitel: „Prozess der Zugehörigkeit Jugendlicher in rechtsextremen Gruppen" beziehen sich weitergehende Fragestellungen der Autorin auf die Prozesse und Mechanismen rechtsextremer Zugehörigkeit und darauf, inwieweit bei zunehmendem Engagement die eigenen Lebensgeschichten einbezogen werden, so wie auf die rechtsextreme Geschichtsbehauptung.

 

Im vorletzten Kapitel „Interaktion mit signifikanten Anderen als konstruktives Element rechtsextremer ‚Mitgliedschaftsarbeit‘: eine Fallskizze" versucht sie anhand des Filmes Von Beruf Neonazi von Winfried Bonengel ihre Theorien über Mitgliedschaft und Intensivierung rechtsextremer Zugehörigkeit zu untermauern.

 

Die ausführliche und gewissenhafte Analyse der Fallstudien macht deutlich, dass sich Jugendliche, die sich rechtsextremen Gruppen anschließen, anfänglich an den Argumenten führender Gruppenmitglieder orientieren und sich mit weiterem Engagement bestimmte gruppenspezifische Ausdrucks- und Handlungsweisen aneignen, mit deren Kenntnis sie sich dann gegenseitig als Mitglieder derselben oder unterschiedlicher Gruppen erkennen. Mit einer weiteren Übernahme von spezifischen Erklärungs- und Handlungsmustern engagieren sie sich als Mitglieder der Gruppe und bestärken ihre Zugehörigkeit.

 

Das Mitgliedwerden zieht eine besondere Form einer biographischen Wandlung nach sich, die eigene Lebenswelt wird neu bewertet (biographische Reschematisierung). Jugendliche sprechen oft von einem „Wiedererkennen", d.h. als Gruppenmitglied verändert man sich nicht grundlegend, sondern erkennt eine Kontinuität der eigenen Identität – als nationaler Deutscher, Nationalist, Rassist etc. –, die einem bisher nur verborgen geblieben war.

 

Rechtsextreme Jugendliche eignen sich nazistische Deutungsmuster an, ein Sinnbezug auf den Nationalsozialismus ist zentral und vollzieht sich in vielfältiger Form, größtenteils in symbolischen Zugängen. Teilweise hängt ihr Geschichtsbezug mit der Verarbeitungsweise der Erfahrungen des Nationalsozialismus innerhalb ihrer Familie zusammen oder sie beziehen sich auf mystifizierende geschichtliche Darstellungen sogenannter „Wahlgroßväter". Die geschichtliche Realität sowie die Erfahrungsberichte der älteren Generation werden uminterpretiert und durch eine Gruppenrhetorik ersetzt, die sich argumentativ auf die deutsche Geschichte bezieht, den Nationalsozialismus rechtfertigt und den Holocaust leugnet. Ausgeblendete gesellschaftliche Erfahrungen werden umgedeutet und wirken so der schweren Last der deutschen Geschichte entgegen und erhalten in der familiären und öffentlichen Erinnerung einen neuen Kontext. In der willkürlichen und systematischen Umdeutung erscheint Gewalttätigkeit begründet und notwendig, um sich durchzusetzen. Leugnung und Umdeutung wirken sich auch in biographischer Hinsicht aus, und zwar als scheinbarer Machtgewinn, so als könne nicht nur alles willkürlich behauptet, sondern auch alles eigenmächtig entschieden werden.

 

Über biographische und geschichtliche Reschematisierung, durch Dramatisierung und gruppenrhetorische Behauptungen kommt – so die zentralen These der Studie – eine zunehmende Intensivierung rechtsextremer Zugehörigkeit zustande. Dabei wird intensive Mitgliedschaftsarbeit geleistet, die Jugendlichen reden sich immer mehr in „die Geschichte hinein"; sie sehen sich als berechtigte Vertreter eines nationalen Geschichtsanspruchs und der damit verbunden Größenvorstellungen. Im Verlauf der Mitgliedschaft kommt es für die Jugendlichen zu wichtigen Veränderungen ihrer Bezüge auf soziale Werte sowie ihrer biographischen Selbstthematisierung.

 

Diese Untersuchung zeigt überzeugend, dass der Rechtsextremismus ein Gruppenphänomen ist und rassistische Gewalt in einem ideologischen Kontext und in Bezug auf die deutsche Geschichte, im Besonderen den Nationalsozialismus, verübt wird. Rechtsextremismus ist attraktiv, weil er imaginären Machtzuwachs bedeutet. Über die Beherrschung der Geschichte scheint auch die eigene Lebensgeschichte bestimmbar.

 

Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Untersuchung auch heute noch Aktualität besitzt und welche neuen Perspektiven oder Hinweise für die aktuelle Diskussion zum Thema Rechtsradikalismus sich aus den Materialien gewinnen lassen. Sind Materialien der Zeit um 1980 noch relevant für die gegenwärtige Diskussion um den Rechtsradikalismus?

 

Inowlockis Studie ist eine der wenigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die mit interpretativ-qualitativen Methoden zusammenhängende Phänomene offen interpretiert und in einen inhaltlichen sowie symbolischen Kontext zur deutschen Geschichte stellt. Diese Studie leistet zweifelsohne einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion über den Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus und regt die wissenschaftliche Debatte erneut an.

 

Sich in die Geschichte hineinreden.

Biographische Fallanalysen rechtsextremer Gruppenzugehörigkeit

Frankfurt am Main: Cooperative Verlag, 2000, 387 S., € 20,–

Bestellen: info@fehe.org

 

Fritz Bauer Institut

Rezensionen, Petra Mumme,

Newsletter Nr. 20 • Frühjahr 2001